Wie aus Transparenz am Ende eine Rollstuhlrampe wird

von Steffen Greschner am 30. Mai 2012

Manchmal ist es schwierig, Politik zu verstehen. Egal, ob im Kleinen oder Großen. Bestes Beispiel ist das, was sich innerhalb des letzten halben Jahres am Tegernsee zugetragen hat. Und wie am Ende aus der Chance, Transparenz in der Lokalpolitik zu leben, eine Rollstuhlrampe wurde.

Aber von Anfang: [x Politics] schreibt immer Sonntags einen Gastbeitrag auf der Tegernseer Stimme. In einem Gastbeitrag vom 25. Oktober 2011 ging es um folgendes Thema: Transparente Politik: Wie die kleine Gemeinde Seelbach anderen zeigt, was die Zukunft ist - der Artikel zeigte auf, wie eine kleine Gemeinde im Schwarzwald mit 5.000 Euro Jahresbudget SeelbachTV,  einen Livestream der Gemeinderatssitzungen, ins Netz bringt. Unterstützt durch Schüler der örtlichen Realschule.

Eine nachfolgende Presse-/Rechercheanfrage der Tegernseer Stimme an die fünf betroffenen Talgemeinden, wie man denn zu dem Thema “Liveberichterstattung” generell stehe, wurde kurzerhand zu einer offiziellen Anfrage an den Gemeinderat umgedeutet. Aufgeschreckt durch solch unerhörter Transparenzanfragen, haben daraufhin alle fünf Talgemeinden das Thema in den nächsten Sitzungen zur Abstimmung gestellt.

Am 22. November 2011 war es dann so weit. Die Gemeindeordnung in Bad Wiessee wurde, vollkommen überstürzt und unerwartet, dahingehend geändert, dass nicht nur Livestreams ins Internet, sondern ALLE Arten von Liveberichterstattung aus öffentlichen Gemeinderatssitzungen verboten wurden. In den übrigen vier Talgemeinden hat man den “Antrag” ebenfalls abgelehnt – immer einstimmig und immer in nichtöffentlichen Sitzungen, hinter verschlossenen Türen:

Im Tegernseer Tal steht die Zeit manchmal still. Und manchmal dreht sie sich sogar zurück, wie am letzten Dienstag im Wiesseer Gemeinderat. Denn dort hat man kurzerhand die Gemeindeordnung an die neuen Medien “angepasst”. Verboten ist neuerdings jegliche Art von Liveberichterstattung.

Bedeutet nicht nur Bild- und Tonaufnahmen sind in den öffentlichen Sitzungen nicht erlaubt, sondern zukünftig auch Textübertragungen.

Passen Sie also auf, dass Sie keine SMS aus einer der nächsten Gemeinderatssitzungen schreiben oder über ihr Handy etwas in ihr Facebook-Profil posten. Ihnen droht der Rauswurf. Möglicherweise auch schlimmeres.

Nochmal im Klartext: Wer also am Tegernsee seit letztem Herbst aus einer, wohlgemerkt öffentlichen Gemeinderatssitzung twittert, SMS oder Email schreibt, auf Facebook postet oder irgendwie zur Außenwelt Kontakt aufnimmt, fliegt raus. Punkt.

Das sorgte am Tegernsee wiederum für einigen Wirbel, viele hitzige Diskussionen und zu einem Protestbrief der Piratenpartei Oberbayern an den Gemeinderat:

Die Piraten im Landkreis Miesbach fragen sich, warum öffentliche Sitzungen nicht öffentlich übertragen werden sollen? Damit werden Bürger der Gemeinde, die an der persönlichen Teilnahme verhindert sind, seien es familiäre, berufliche oder gar gesundheitliche Gründe, von den Versammlungen ausgeschlossen.

Das war zwischen Oktober 2011 und Januar 2012. Also vor gut sechs Monaten. Seither war Ruhe.

Ja, bis letzte Woche, als es mal wieder eine Gemeinderatssitzung am Tegernsee gab. Da waren dann folgende Worte des Bürgermeisters Georg von Preysing zu hören:

Als wir den Antrag der Tegernseer Stimme auf Live-Berichterstattung abgelehnt haben, hatten wir das auch damit begründet, dass jeder Bürger zu den Sitzungen kommen kann. Für behinderte Menschen ist das derzeit aber nicht möglich. Und wer weiß, vielleicht erwischt es auch mal einen von uns.

Das war die Einleitung zur danach folgenden Schildbürgerstreich Tegernseer Transparenzoffensive. Nochmal zur Erinnerung: Angefangen hatte alles mit einem Artikel über eine Schwarzwälder Gemeinde, die für 5.000 Euro Jahresbudget die Gemeinderatssitzungen live ins Internet Überträgt.

Das Ergebnis daraus nach sechs Monaten:

Nun wurde einstimmig eine Zwei-Stufen-Treppenlösung (Anm: in den Sitzungssaal) verabschiedet, die sich per Knopfdruck in eine Hebebühne verwandelt. Der Vorteil dabei: der Rollstuhfahrer kann die Lösung alleine bedienen und ist auf keinen weiteren Helfer angewiesen. Die Kosten sind derzeit noch offen, dürften sich aber im Bereich von etwa 10.000 Euro bewegen.

Puh. Man freut sich für die Rollstuhlfahrer. Die Entscheidung, für einen barrierefreien Zugang zu sorgen, ist natürlich richtig und wichtig. Man fragt sich aber schon, was in den Köpfen vor sich geht, dass man sich so gegen Transparenz verwehrt und gleichzeitig doch selbst erkennt, dass etwas im Argen liegt.

Aber immerhin ist einmal mehr der Beweis erbracht, dass verlagsunabhängige Grass-Root-Medien durchaus in der Lage sind etwas zu bewegen und zu verändern. Auch wenn aus gedachten Transparenzoffensiven eben Rollstuhlrampen werden.

Zusatz: Das Projekt SeelbachTV wurde inzwischen vom Baden Württembergischen Landesdatenschutzbeauftragten gegen den Willen der Gemeinde und aller Beteiligter gestoppt.

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