Piratenchance: Systementwicklung statt Vollprogramm

von Steffen Greschner am 12. April 2012

Langsam aber sicher werden die gesellschaftlichen Diskussionen um die Piraten sachlicher und kommen dem eigentlichen Punkt oft näher. Eine der spannendsten Analysen kann man seit einigen Tagen auf Spiegel Online nachlesen.

Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs, beschreibt in einem Essay, was die Faszination der Piratenpartei für Sie bedeutet und schafft es dabei – ohne vom Protestwähler zu sprechen -, die Wünschen und den stetigen Zulauf der Wähler zu erklären:

Die Piraten sind angetreten, einen Versuch der basisdemokratischen Politikgestaltung zu unternehmen, der sich der Mittel des 21. Jahrhunderts bedient, ohne dabei in die Falle des niemals endenden Gelabers ohne bindende Entscheidungen zu tappen. Gleichzeitig sollen verholzte Strukturen wie Landesverbände und Antragskommissionen vermieden werden. Den Vorwurf, sie würden so kein “Vollprogramm” entwickeln, können sie gelassen hinnehmen. Denn was das sein soll, dürften die Spitzenpolitiker der konkurrierenden Parteien anhand der eigenen Programme kaum zeigen können. Einen visionären Gesellschaftsentwurf hat auch von ihnen niemand in petto.

Was wir hier schon öfter als “die Aufgabe der Piraten ist die Suche” beschrieben haben, sieht Kurz ebenfalls als einen der wichtigsten und zugleich gefährlichsten Punkte für die Piraten. Es geht für sie weniger um inhaltliche Programme, als darum ein neues Betriebssystem für die Politik des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Ein System der Teilhabe, das die Möglichkeiten des Internet mit einbezieht:

Das Versprechen der direkten Partizipation macht die Piraten so attraktiv für die von der Parteipolitik Verdrossenen. Ob die politischen Neulinge aus dem Netz dieses Versprechen halten können, ist eine der spannendsten Fragen des aktuellen Zeitgeschehens. Wenn das Experiment scheitert, die junge Partei im Chaos versinkt oder sich Sektierer und Partikularinteressenten ihrer bemächtigen, ist das Modell einer permanenten direkten politischen Online-Beteiligung wohl für eine ganze Weile diskreditiert.

Anstatt sich in inhaltlichen Debatten zu verstricken, liegt die größere Chance vielleicht darin, das System weiter zu entwickeln. Liquid Democracy ist ein Teil davon. Aber auch die Definition relevanter Zukunftsthemen kann eine spannende Möglichkeit sein, die Suche und Weiterentwicklung sinnvoll vorwärts zu treiben.

Das man für die Wähler nicht zwingend ein “klassisches Vollprogramm” im bekannten Sinne braucht, zeigen die Ergebnisse der letzten Wochen und Monate. Die Piraten bekommen den größten Vertrauensvorschuss nicht für starre Programme und Ziele, sondern dafür, dass sie die Hoffnung auf permanente Veränderung und die Suche nach Möglichkeiten der Teilhaben aufrecht erhalten.

Eine umfangreiche Einführung in das System Liquid Democracy bietet die Magisterarbeit von Sebastian Jabbusch.

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